Die Analyse

Der „Kretzer“

Geschichtliches rund um den Lagrein Kretzer.

von Helmuth Scartezzini

Namensforschung

Lagrein hat sich nach dem Sprachforscher Egon Kühebacher aus (Val)Lagerina entwickelt. Das südlichste Etschtal trug nämlich die Bezeichnung „lagare“. Die Eindeutschung vor der Jahrtausendwende ergab Lager(tal) infolge der althochdeutschen Erstsilbenbetonung. Durch die spätere Eindeutschung im 12. Jahrhundert hat sich die romanische Betonung auf “i“ erhalten und ist zu „ei“ verzwielautet worden– aus Lagarina wurde Lagrein. Allerdings taucht keine Rebsorte unter den Namen Lagarina(o) in diesem Abschnitt des Etschtales auf, zumindest nicht bis im 18. Jahrhundert. Es liegt nahe, dass es sich um eine Weinbezeichnung aus einer Lage handelte, wie wir es häufig bei den Römern und im angehenden Mittelalter vorfinden. Nach eigener Erkenntnis hat die Lokalsorte des Lagarino bianco im Cembratal keine Gemeinsamkeiten mit den heimischen Lagreinvarietäten.

Der Begriff Kretzer leitet sich ab von der Kretze, einem aus Weiden geflochtenen Korb, durch den der gepresste Most floss und ihn so von den letzten Beerenschalen und Stielen trennte. Kretze kommt aus dem mittelhochdeutschen Wort für einen Tragkorb, dessen Form die im Weinkeller verwendete Gerätschaft auch aufweist. Der Begriff Kretzer tritt allerdings erst spät in der Literatur auf (19. Jahrhundert) und wirft damit Fragen auf.

Foto: ©www.kellereibozen (Kellerei Bozen)

Rebsortengeschichte

Lagrein als Rebsorte erscheint erstmals 1318 in einer Armenspende an der alten Grieser Pfarrkirche, bezeichnenderweise ausdrücklich als „weißer Lagrein“. Der weiße Lagrein bleibt über 300 Jahre die berühmteste Rebsorte Tirols – der Traminer des ausgehenden Mittelalters bestand aus dieser Sorte – und bis ins 18. Jahrhundert zumindest die am häufigsten erwähnte. Die als verschollen geglaubte Rebsorte habe ich in der Gegend (Gemeinde Lana) sowie in Naturns vorgefunden. Deren Sorteneigenschaften sind nach heutiger Sichtweise unspektakulär. Eine molekularbiologische Untersuchung der Versuchsanstalt Laimburg beurteilte sie identisch mit einer historischen Sorte der Korsika namens Carcajolo Blanc. Aus den damaligen Umständen im Weinbau bleiben noch offene Fragen wie der gleichen Identität oder des damaligen üblichen, gemischtsortigen Weinbaues. In der Rebsortenkunde bekommt eine Sorte nur das Adjektiv weiß oder blau sofern es beide gibt, die aber nach heutigen Erkenntnissen auch nicht unbedingt verwandt sein müssen. Von der blauen Variante, somit eine Rotweinsorte, erfahren wir erst 1526 durch die Landesordnung des Anführers der Tiroler Bauernaufstände Michael Gaismair, als er für die Bodenlagen roten Lagrein zur Erzeugung von „Vergärner“ anregte. Bei Bodenlagen konnte es sich fast nur um jene um Bozen handeln, da ansonsten außerhalb der Schuttkegel auf den die Ortschaften standen, nur eine versumpfte Talsohle vorlag.

Als ein Mönch des Stiftes Tegernsee 1492 erstmals in unserer Weingeschichte eine Auflistung von Rebsorten abgab, erwähnte er Muskateller, Vernetzer, Lagreiner als die besten gegenüber Pfefferwein, Heunisch, Madruschen, Schlafen, Verdolen als die minderen. Repräsentative Auskunft für den Rebenanbau in Gries gibt ein Inventar des Anreiterhofes in Moritzing aus dem Jahre 1644, wobei 16 Sorten aufgezählt werden, darunter der „schwarze“ Lagrein sowie der weiße Lagrein. Welche Sorten am häufigsten ausgepflanzt waren erfahren wir lange noch nicht. Die Reinsortigkeit in den Anlagen zu dieser Zeit waren eher unwahrscheinlich. Zur gleichen Erkenntnis führt ein Verleihungsbrief 1592 aus Terlan, als für die Erneuerung eines Weingartenstückes neue Reben, worunter nur ein Teil Lagrein sein sollten, und zwischen den Rebzeilen Gfinnen oder Ackertafeln für den Anbau von Getreide oder Gemüse anzulegen waren.

Verwandtschaft der Sorte Lagrein

Die DNA-Analysen von bekannten Sorten aus Sammlungen erlaubten in den vergangenen 10 Jahren für viele europäische Sorten ihren Stammbaum zu erstellen. Überraschenderweise kam zu Tage, dass aus mindestens zwei spontanen Kreuzungen des Teroldego mit dem gleichen unbekannten Elternteil, der Ähnlichkeiten mit dem Kleinvernatsch besitzt, die Sorten Lagrein und Marzemino hervorgingen, diese also Geschwister sind. Demnach müsste Teroldego älter sein als der blaue Lagrein. Das scheint inzwischen in Frage gestellt zu sein, d.h. im Umkehrschluss Teroldego wäre ein Kind des Lagrein. Darüber hinaus erkannte man den Lagrein als einen Enkel des Blauburgunders sowie als Cousin des Syrah. Die angenommene Herkunft aus Griechenland, Süditalien oder Abstammung aus einer Wildsorte erscheint damit ausgeschlossen. Der blaue Lagrein dürfte somit aus unserer Gegend stammen, zudem er nur hier angepflanzt wurde und nie eine andere Bezeichnung trug. 

Wechsel im Weinausbau: Vergärner versus Höpfwein

Der Weinbau Südtirols, obwohl Impulse von den Etruskern stammen, unterscheidet sich vom italienischen Raum seit altersher sowohl in seinen Sorten, Reberziehung, Weinbehälter und der Behandlung der Weine. Der Einfluss der süddeutschen Klosterbesitzungen dürfte dazu geführt haben, dass die Bereitung der Most- oder Höpfweine (auch Abtorggler bezeichnet) bis ins 17. Jahrhundert vorherrschend war. Die Weine davon brauchten längere Zeit ehe sie die Herbe und Säure verloren, sodann aber haltbarer erschienen. Die für uns jüngere Art der Weinbereitung, als Vergärner oder Tresterwein bezeichnet, wurde auf der Maische in den ortsüblichen Standern vergoren und war vergleichsweise in kürzerer Zeit trinkbar. In den Gastwirtschaften fanden sich Höpfweine, Vergärner, Traminer, Leitacher und die Spezialweine wie Sacklwein, Kräuterweine und gsottener Wein im Ausschank. Hand in Hand mit der Umstellung in der Weinbehandlung ging die Verbreitung der saftreichen Vernatscharten und Gschlafenen einher. Die Rotweine übernahmen die Hauptrolle im Anbau nachdem die Weißweine im Verhältnis 4:1 im Mittelalter hinweg dominierten. Die vorherige Weißweinbereitung als Mostwein begann sich in Tirol erst wieder am Beginn des 20. Jahrhunderts durchzusetzen. Die Weinfarbe aus blauen Trauben dürfte bei der Höpfweinbereitung im Gegensatz zu den Vergärnern zu keiner rubinroten Farbe geführt haben. Aus der Beschreibung des Haller Arztes Hyppolitus   Guarinoni (1610), Verfechter des „gesünderen“ Vergärners, erfährt man auch nur von rötlich schillernden Weinfarben zu den Mostweinen. Die Kretzerherstellung aus farbintensiven blauen Sorten stellt somit teilweise die Fortführung der zumindest über 500 Jahre in Tirol verbreiteten Mostweinherstellung dar.

Kretzer – nur ein kurzer Zeitabschnitt?

Nach Matthias Ladurner Parthanes ist der Kretzer eine erst anfangs des 19. Jahrhunderts aufgekommene Bezeichnung eines aus reinen Most gemachten Weines. Mit „kratzen“ als Geschmacksempfindung wie es ein Tiroler Mundartenwörterbuch deutet, hat dieser Weintyp nichts gemein, denn der frische, doch milde Wein verfügt über  entgegengesetzte sensorische Eigenschaften. Dass man nach übermäßigen Genuss des Kretzers „aufgekratzt“ sein kann, ist ein anderes Kapitel, was aber vielen Weißweinen ja auch nachgesagt wird.

Nach Beda Weber, der ausführlich den Burggräfler Weinbau beschreibt (1838), war die Kretzerbereitung sehr beschränkt, da die Bevölkerung den „Kritzer“ nicht sonderlich liebte. Ganz anders äußert sich 1894 Edmund Mach, der erste Direktor der landwirtschaftlichen Landes- Lehr- und Versuchsanstalt von San Michele. Zum einem berichtet er, dass die Sorte Lagrein in Gries und Bozen „in ganz reinem Satz gezogen“ wird. Zum anderen vertritt er die Ansicht, wonach Lagreinwein  ungemischt und vollkommen auf seine Hülsen vergoren, sich weniger gut zum Genuss eignet, dagegen ist der Lagreinkretzer „als feiner Tischwein (Kneippwein) im Lande sehr beliebt. Er ist für den Tiroler das, was der Heurige für den Niederösterreicher ist“! Nach Edmund Mach entstand der Kretzer nach 1 bis 3- tägigem Gähren auf den Trestern und wurde dann abgezogen > > (dafür wurde die Kretze gebraucht) bzw. süß abgepresst. „Es ergibt sich ein nicht zu dunkler, anfangs wohl meist süßlicher, wirklich sehr lieblicher, angenehmer Wein der von den Einheimischen gerne beim Törggelen getrunken wird.“

Zwei weiter Aspekte müssen berücksichtigt werden. Der blaue Lagrein war und ist die Hauptsorte nur in Bozen/Gries, dies als Ergebniss aus jahrhundertelanger Beobachtung zu den Ansprüchen der Rebsorte. Im Burggrafenamt war der Anbau jederzeit relativ bescheiden. Wo fand der Weinkonsum im Lande damals statt? Unzweifelhaft in den Gastwirtschaften, aber auch in den zahlreichen Buschenschänken der Städte Bozen und Meran. Bozen besaß im 17. Jahrhundert über 40 Gastwirtschaften sowie zahlreiche Buschenschänke. Bozen hatte als Erste in Tirol die alte städtische Rechtsgewohnheit (also kein verbrieftes Recht wie anderswo) wodurch die Bürger ihren aus innerhalb des Gerichtes Bozen gewachsenen Wein in ihrem Wohnhaus in der Stadt das ganze Jahr über aufschenken durften. Nach einer neuen Verordnung 1825 schossen die Buschenschänke wieder wie Pilze aus dem Boden, besonders von Bauern, die ein Stadthaus besaßen. An Speisen durften nur Vorschlag, Topfen, ungekochte Würste, Speck, Nüsse und Kastanien angeboten werden. Der allgemein verabreichte Bozner Wein war zu dieser Zeit ein Lagreinkretzer oder St. Magdalener. Berühmtheit erlangte das Batzenhäusl für den St. Magdalener, vormals Buschenschank des Deutschordens. Der Höpfwein aus Lagrein hatte sich in Bozens Weintradition herübergerettet. Aber vermutlich war der „Kritzer“ bereits seit den Beginn der Neuzeit als solcher im Gebiet gebräuchlich, denn Guarinoni prangert diesen “am Anfang dick, süß und trüben“ Wein als „Malefizgesöff“ an.

Kretzer in den Bozner Weinverkostungen

Die Anzahl der an den Veranstaltungen ausgestellten Weine stellt sicherlich einen Gradmesser der vorherrschenden Typologie dar. Die erste Weinausstellung mit 31 Ausstellern fand 1864 in Bozen statt, dort standen 3 Lagrein Kretzer einem Lagrein Vergärner gegenüber. Beim 1. Frühjahrsweinmarkt März 1896, der gemeinhin als Beginn der langen Reihe (93) von Bozner Weinkosten gilt, standen 12 Lagrein Kretzer zur Auswahl, aber kein Vergärner. Allerdings konnte unter der Kategorie Tischweine- meistens einjährige Fassweine- die Sorte nicht erahnt werden, vermutlich zumeist gemischte Sätze. 1914, die letzte Veranstaltung vor dem Weltkrieg, gab es 16 Lagreinkretzer und nur einen Lagrein dunkel. Auch bis 1963 (41. Weinkost) änderte sich das Verhältnis nicht: 20 Kretzer gegen einen Lagrei dunkel. 1985 standen bereits 17 Lagrein dunkel den 25 Kretzern gegenüber. 2000 kippte das Verhältnis mit 34 Lagrein bei nur mehr 7 Kretzer. Von der Bezeichnung Lagrein dunkel war man in der Zwischenzeit abgegangen.

Lagrein Kretzer heute

In den letzten Jahren erzeugten 22 Betriebe einen Lagrein Kretzer mit einer Menge von rund 2700 hl, das bedeutet 0,8% der Gesamtproduktion. Als Vorzeigeprodukt dient er keinem Erzeuger, wohl aber als Ergänzung im Sortiment. Produktion und Anzahl der Betriebe sind leicht rückläufig, 2015 waren es noch 3700 hl und 30 Betriebe. Kretzer zeigen sich nicht mehr rotweinlastig, sondern fruchtig, weißweinähnlich. 

Die fruchtigen Aromen und die stabile violette Farbe geben den Kretzern aus Lagrein einen besonderen Pluspunkt im internationalen Vergleich an Rosèweinen.

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